Naturalismus | 1875 - 1900 | Literaturepoche

Der Naturalismus beschreibt eine Epoche der Literatur in ganz Europa, die um das Jahr 1880 einsetzte und bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts dauerte. Eine wahrheitsgetreue Beobachtung und exakte Wiedergabe der gesellschaftlichen Wirklichkeit wurden die Hauptmerkmale dieser Strömung, die sich in Deutschland später als in Frankreich oder Norwegen entwickelte. Die deutschen Schriftsteller griffen die stilistischen Merkmale der Werke Emile Zolas oder Henrik Ibsens auf und schufen ihrerseits eine Literatur mit dem Schwerpunkt auf der Darstellung des deprivierten Lebens und Arbeitsumfelds des Proletariats.

Historischer Kontext des Naturalismus
Die industrielle Revolution führte in Europa zu einem unsagbaren Elend der Arbeiterklasse, geprägt von Armut, Hunger, Ausbeutung und Kinderarbeit. Parallel zu diesen unmenschlichen Verhältnissen entwickelte sich auch eine wachsende Schicht von aufsteigenden, frühkapitalistischen Unternehmern Schon in den realistischen Romanen der englischen, französischen und russischen Schriftsteller wurden diese Probleme behandelt, die Naturalisten dachten diese literarischen Grundideen jedoch weiter und radikalisierten sie. Der Roman „Germinal“ des französischen Schriftstellers Emile Zola gilt als Schlüsselwerk des europäischen Naturalismus und beschreibt auf schonungslose Weise die Arbeits- und Lebensbedingungen der Bergarbeiterfamilien in den Kohlegruben Nordfrankreichs. Seine detailgetreue Schilderung konnte Zola nur dadurch zu Papier bringen, dass er selbst monatelang mit Kohlearbeitern lebte und jedes Detail deren Alltags genau dokumentierte. In seiner Recherchearbeit für „Germinal“ ist das Grundmerkmal des Naturalismus zu finden, denn Zola wurde zum Idol einer ganzen Generation von Autoren, die seine schriftstellerische Arbeitsweise aufgriffen. Seine schonungslose, akribische und dabei wertfreie Darstellung aller Aspekte des Arbeiterlebens, auch der Räumlichkeiten, Arbeitsinstrumente, Familiengeschichten oder sexuellen Begegnungen diente den deutschen Schriftstellern als Vorbild. Die Entsagung vom poetischen Realismus, zugunsten einer dokumentarischen und nüchternen Bildhaftigkeit, vollzog sich anfangs nur sehr schleppend.

Stilmerkmale und Themen des Naturalismus
Die Porträts von orientierungslosen jungen Menschen aus dem Bürgertum, die sich in der stetig wandelnden Gesellschaft nicht zurechtfinden, bildeten die narrative Grundlage des poetischen Realismus, der die Literatur in Deutschland ab der Jahrhundertmitte dominiert hatte. Naturalisten konzentrierten sich unter dem Einfluss der ausländischen Schriftsteller nun auf die Darstellung der Lebensbedingungen der Proletarier, frei von Pathos und mit nüchterner Präzision. Die beinahe wissenschaftlichen Studien von sozialen Milieus hatten die kunstvolle Darstellung bürgerlicher Probleme abgelöst und waren ins Zentrum der schriftstellerischen Bemühungen gerückt. Die Autoren des Naturalismus strebten die ganzheitliche Darstellung ihrer Sujets an, bewusst auch mit den hässlichen und verdrängten Details aus dem freudlosen Leben der Arbeiterschicht.
Die triste Existenz im Schatten der Großstadt zeichneten die Schriftsteller durch die Beschreibung von Alkoholsucht, zerrütteten häuslichen Verhältnissen, sexueller Triebhaftigkeit, Geschlechtskrankheiten und Kriminalität nach. Gegensätzliche Darstellung von bürgerlichem Komfort und Wohlstand und dem kargen Leben der Arbeiterschicht stellt ein wichtiges Stilmittel der Literatur des Naturalismus dar. Die detailgetreue Beschreibung von ausgehungerten und überarbeiteten Körpern auf der einen Seite, und von dicken Gesichtern wohlgenährter Bürger auf der anderen Seite, schuf ein plastisches Bild der sozialen Gegensätze. Wie den Realisten ging es auch den Naturalisten um die Zeichnung verschiedener Charaktere, die aufgrund der technischen Errungenschaften und des Kapitalismus ein trostloses Leben fristen müssen. Die handelnden Personen der naturalistischen Werke werden jedoch mit all ihrer Triebhaftigkeit, ihren enttäuschten Träumen und ihrem öden Arbeitsalltag im Detail beschrieben, ohne dass eine Psychologisierung ihr Dasein interpretieren oder deuten würde. Stattdessen sind die Dialoge in der ihrem Milieu entsprechenden Alltagssprache verfasst, mitsamt grammatikalischen Fehlern, unvollendeten Sätzen, Stammeln oder Stottern. Dadurch erreichen die naturalistischen Schriftsteller eine authentische Betrachtung von Menschen der arbeitenden Klasse.
Die Literatur des Naturalismus beleuchtete in ungeschönten Betrachtungen eine Gesellschaftsschicht, der bis dahin keinerlei Bedeutung in der Literatur beigemessen worden war. Naturalisten bekannten sich dadurch zu einer gesellschaftspolitischen Position und protestierten offen gegen die herrschenden Zustände, obwohl sie sich nicht als politische Protestbewegung verstanden oder gar den Anspruch erhoben, Lösungsvorschläge zu vermitteln. Die pessimistische Grundstimmung und die erschütternden Ausgänge ihrer Geschichten entraubten den Leser absichtlich jeder Hoffnung auf Besserung.
Nachdem der Realismus eine recht bedeutungslose Phase für das Drama dargestellt hatte, griffen die Naturalisten nun auch das Theater wieder auf, um ihre Sozialstudien mithilfe präziser Dialoge auf die Bühne zu stellen. Auch in dramatischen Werken wurden unter Beibehaltung der traditionellen Formen Tragödie und Komödie und durch Stilelemente wie Umgangssprache, ausführliche Regieanweisungen, Verzicht auf Monologe und die Behandlung von Tabuthemen detailgetreue Abbilder der gesellschaftlichen Wirklichkeit geschaffen.

Werke und Vertreter des Naturalismus
Der Schriftsteller Gerhard Hauptmann gilt unter Literaturhistorikern als der bedeutendste Schriftsteller der Epoche des deutschen Naturalismus. Sowohl sein dramatisches als auch episches Werk zählt heute zum Kanon der Weltliteratur. Die Titelfigur seiner berühmten Novelle „Bahnwärter Thiel“ ist der Archetyp des naturalistischen Antihelden, der in seinem Wärterhäuschen an der Bahnstrecke zwischen Frankfurt und Berlin tagaus, tagein sein trostloses, beengtes und von privaten Katastrophen gekennzeichnetes Leben führt und aus lauter Verzweiflung schließlich zum Mörder seines Kindes und seiner verhassten Ehefrau wird.
Hauptmanns Sozialdrama „Vor Sonnenaufgang“ aus dem Jahr 1889 behandelt die problematischen Zustände innerhalb einer Bauernfamilie, die durch Alkoholsucht und Kindestod zugrunde geht. Sein Drama „Die Weber“ erzählt ganz im Sinne des Naturalismus schonungslos die Hungersnöte, katastrophalen Arbeitsbedingungen und den Aufstand von Arbeitern einer Stofffabrik. Durch die dokumentarische Darstellung wurde damals über das Stück ein jahrelanges Aufführungsverbot verhängt. Auch Hauptmanns Drama „Der Biberpelz“ und seine Tragikomödie „Die Ratten“ behandeln die Ausbeutung der Arbeiter durch das kapitalistisch geprägte Bürgertum.
Die Freunde Arno Holz und Johannes Schlaf schufen in Zusammenarbeit die als „konsequent naturalistisch“ bezeichnete Novellensammlung „Papa Hamlet“, u.a. mit den Erzählungen „Der erste Schultag“, „Papa Hamlet“ und „Ein Tod“. „Papa Hamlet“ behandelt auf beißend-satirische Weise den Größenwahn des arbeitslosen Schauspielers Niels Thienwiebel, der seiner Rolle als Hamlet hinterhertrauert. Die beiden Naturalisten verfassten gemeinsam und in Anlehnung an die akribisch genaue Darstellung in Emile Zolas Romanen auch die dramatische Milieustudie „Die Familie Selicke“ sowie die Textsammlungen „Krumme Windgasse 20. Studie aus dem Studentenleben“ und „Neue Gleise“.
Auch der Münchener Schriftsteller Michael Georg Conrad schuf mit seinen Romanen „Wie die Isar rauscht“, „Die Beichte des Narren“ und „Die klugen Jungfrauen“ bedeutende Werke des Naturalismus. Neben Hauptmanns Dramen wurde vor allem Max Halbes Drama „Jugend“ zum wichtigsten Theaterstück des Naturalismus in Deutschland. Neben „Jugend“ und zahlreichen anderen Bühnenwerken verfasste Halbe auch das im Bauernmilieu angesiedelte Familienmelodram „Der Strom“ und einige naturalistische Romane wie etwa „Die Tat des Dietrich Stobäus“. Weitere erwähnenswerte, jedoch heute weitgehend in Vergessenheit geratene Werke des deutschen Naturalismus sind Hermann Conradis Romane „Phrasen“ und „Adam Mensch“, Julius Harts Epos „“Das Lied der Menschheit“ sowie Hermann Sudermanns Novellensammlung „Im Zwielicht“ und sein Roman „Frau Sorge“.