Neue Sachlichkeit | 1925 - 1940 | Literaturepoche

Unter dem Begriff „Neue Sachlichkeit“ setzte sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in der Weimarer Republik eine neue Kunst- und Literaturepoche durch. In den frühen Zwanzigerjahren begannen die Schriftsteller allmählich, sich von den stilistischen Vorgaben des Expressionismus und dessen Pathos und Emotionalität zu befreien. Sie bewegten sich zu einem dokumentarischen, die Wirklichkeit abbildenden Schreiben hin, das die politischen Umbrüche, gesellschaftlichen Zusammenhänge und die neue Wirtschaftsordnung auf nüchterne Weise beobachtete. Die Werke der Neuen Sachlichkeit wurden zu einer Gebrauchsliteratur, die auch den Menschen niederer Bildungsschichten einen leicht verständlichen und objektiven Einblick in die politischen Geschehnisse und wirtschaftlichen Entwicklungen jener Zeit gewährte.

Historischer Kontext der Neuen Sachlichkeit
Wie viele andere Strömungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts wurde auch die Literatur der Neuen Sachlichkeit maßgeblich von den gestalterischen Anforderungen der bildenden Künste beeinflusst. Der literarischen Neuen Sachlichkeit ging eine vor allem in der Architektur und im Design allmählich aufkommende Auffassung der Künstler voran, dass Schönheit und Form allein durch die Funktionalität eines Objektes definiert sei. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Zeit des Expressionismus entwickelten die Künstler neue zukunftsorientierte ästhetische Anforderungen und damit einen Stil, der nicht hauptsächlich Farbe, sondern Formgebung und Raum ins Zentrum stellte.
Zweckform und Sachlichkeit wurden die neuen Schlagwörter der jungen Künstler wie Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe oder Le Corbusier, die sich in den frühen Zwanzigerjahren in Organisationen wie dem Werkbund und dem Bauhaus zu großen Vereinigungen zusammenschlossen und gemeinsam eine neue Ästhetik schufen. Sie brachten vor allem auf dem Gebiet der alltäglichen Kunst und der neuen Architektur bahnbrechende Neuerungen hervor. Die von den Architekten und Künstlern propagierte Sachlichkeit, hielt bald auch in den intellektuellen literarischen Kreisen Einzug, wo die Schriftsteller ihrerseits nach neuen Formen für eine objektive und wirklichkeitsgetreue Darstellung zu suchen begannen.

Stilelemente und Sprache der Neuen Sachlichkeit
Die Schriftsteller der Neuen Sachlichkeit begannen, sich in der Phase unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und dem allmählichen Aufkommen einer Massengesellschaft und kapitalistischen Weltwirtschaft in den neuen Gesellschaftsstrukturen umzusehen und diese literarisch zu dokumentieren. Eine sachliche, auf das wesentliche reduzierte Ausdrucksweise, die mit einem totalen Verzicht auf ornamentale sprachliche Elemente einherging, wurde zum Hauptmerkmal dieser literarischen Epoche. Die Schriftsteller der Neuen Sachlichkeit stellten sich gegen eine poetisierende Erzählweise und ein literarisches Psychologisieren und schufen damit Figuren und Handlungsstränge, in denen subjektive Gefühle wie Liebe, Trauer und Melancholie keinen Platz mehr hatten. Stattdessen versuchten sie, sich auf Fakten und Tatbestände zu konzentrieren und bemühten sich um eine objektive und wahrheitsgemäße Darstellung aus der Beobachterperspektive. Auch historische und religiöse Motive und Ereignisse wurden auf zeitgenössische Figuren übertragen und jeglicher Mystik und Träumerei enthoben. Die Autoren bedienten sich einer reduzierten Sprache, die durch Präzision gekennzeichnet war, stark an das publizistische Schreiben erinnerte und wenig Spielraum für Interpretation zuließ.
Die Figuren in den Werken der Neuen Sachlichkeit sind auf ihre gesellschaftliche und berufliche Position reduzierte Menschen einer modernen und zeitgenössischen Massengesellschaft, deren Emotionen kaum beschrieben werden. Nur die äußere Realität ihrer Existenz wird auf detaillierte und bis zum Ende gedachte Weise nachgezeichnet, auch im Hinblick auf ihre privaten Beziehungen. Die nüchterne, realitätsbezogene Alltagssprache, die die Werke der Neuen Sachlichkeit kennzeichnet, sollte es Lesern aller Bildungsschichten ermöglichen, die literarischen Abhandlungen zu Gesellschaft und Politik zu verstehen. Schriftsteller der Neuen Sachlichkeit trachteten danach, so viele Menschen wie möglich mit ihrer dokumentarischen Literatur zu erreichen. Um sich sprachlich in die Nähe des journalistischen Schreibens zu bewegen, benutzten sie die narrative Struktur der Montage, indem sie Zeitungsartikel, Reportagen, Textstellen anderer Werke und Lieder in die Handlungen einfügten. Damit bezweckten sie eine veränderte Sichtweise ihrer Leser auf die politischen Ereignisse ihrer Zeit und ein verbessertes Verständnis der Kritik an historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Das aktuelle Zeitgeschehen mit den sozialen und wirtschaftlichen Problemen wie der Inflation, die Folgen des Ersten Weltkrieges und und die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Elite, waren ins Zentrum der schriftstellerischen Arbeit gerückt und wurden für jedermann verständlich aufbereitet.

Werke und Vertreter der Neuen Sachlichkeit
Die bevorzugte Literaturgattung der Literaturepoche der Neuen Sachlichkeit wurde der Zeitroman, der die Geschehnisse des Ersten Weltkrieges, das Ende der Monarchie in Deutschland und Österreich und das Großstadtleben durchschnittlicher Menschen der modernen Massengesellschaft auf detaillierte Art beschreibt. Dies gelang Erich Kästner in „Fabian – Die Geschichte eines Moralisten“ auf herausragende Weise mit dem detaillierten Portrait eines jungen arbeitslosen Intellektuellen, der sich im Berlins der frühen Dreißigerjahre herumtreibt. Zu den wichtigsten Prosawerken zählen neben Carl Zuckmayrs „Der Hauptmann von Köpenick“, Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ und Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ vor allem „Radetzkymarsch“ und „Hiob“, die großen Romane von Josef Roth, die den allmählichen Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie anhand des Schicksals kleiner Bürger nachzeichnen. Auch „Der rasende Reporter“ von Egon Erwin Kisch, Irmgard Keuns „Das kunstseidene Mädchen“ und Hans Falladas Zeitromane „Bauern, Bonzen & Bomben“, „Kleiner Mann – was nun?“ und „Wolf unter Wölfen“ gelten als Paradebeispiele der Literatur der Neuen Sachlichkeit.
Als sogenannte „Gebrauchslyrik“ wurden die Gedichte dieser Literaturepoche bezeichnet, deren Sprache durch eine klare Verständlichkeit geprägt war und von den Schriftstellern als Anleitung zur richtigen Rezeption ihrer Werke diente. So schrieben beispielsweise Bertolt Brecht mit der „Hauspostille“, Erich Kästner mit „Herz auf Taille“ und Kurt Tucholsky mit „Ideal und Wirklichkeit“ lyrische Arbeiten, die für die Leser vor allem von Nutzen für das politische Verständnis sein sollten und ohne den für die Poesie typischen Stilelementen wie Metaphern und Bildern auskamen.
Ganz im Sinne der Gebrauchskunst begann auch der Dramatiker Bertolt Brecht in den frühen Zwanzigerjahren seine Entwicklung einer neuen Theaterform. Brechts episches Theater zielte darauf ab, den Zuschauer durch verfremdende dramaturgische Effekte zu einem Erkennenden zu machen und ihn im Sinne des Sozialismus und Kommunismus zu erziehen. Wie viele Romane der Neuen Sachlichkeit stellen auch die frühen Lehrstücke Brechts, die „Dreigroschenoper“, „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ oder „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ den Kapitalismus und seine Auswirkungen auf die Massengesellschaft und die Arbeiterschaft in den Vordergrund. Auch den kritischen Volksstücken des österreichischen Schriftstellers Ödön von Horvath wie „Geschichten aus dem Wienerwald“ oder „Glaube Liebe Hoffnung“ liegt eine unverblümte Darstellung der sozial benachteiligten Gesellschaftsschichten und deren Gepflogenheiten zugrunde. Verarmte, ausgestoßene Figuren ohne Zukunft und Perspektiven treten als Dramatis Personae bei Horvath in den Vordergrund. Wie Brecht begann auch Horvath allmählich, seine dokumentarische Theaterarbeit auf politische und religiöse Themen auszuweiten und sich literarisch mit dem aufkommenden Nationalsozialismus auf kritische Weise auseinanderzusetzen.